Freitag, 9. Juli 2010

Dr. Willi Fehlmann ist Partner der Improvement Group AG und Spezialist für neue Organisationsformen, die mehr Komplexität absorbieren.

Wir werden jeden Kommentar gerne aufnehmen und reflektieren, schon im Voraus vielen Dank.

Umgang mit Komplexität

Die Geschichte der normalen Firma

Fünf Leute machen einen Spin-off. Sie haben eine gemeinsame Idee und können die in ihrer Firma nicht realisieren. Sie machen sich darum mit ihrer Idee selbständig.

Die Formalitäten zu Gründung einer GmbH erachten sie als ein notwendiges Übel, denn sie stimmen sich gegenseitig ab, sind alle gleichberechtigt und fällen Entscheidungen im Konsens. Sie arbeiten intensiv und mit viel Spass.

Die Idee erweist sich als erfolgreich. Die Aufgaben nehmen zu, zuerst vor allem im administrativen Bereich. So entscheidet man sich für einen Assistenten, der wohl Überstunden macht, aber doch auch seine geregelte Arbeitszeit haben will.

Damit tritt ein neues Phänomen auf. Der Assistent weiss manchmal nicht, wen er ansprechen soll. Also macht er e-Mails an alle, was die andern wiederum müssig finden.

Die Arbeit nimmt zu und man sucht noch einen Verfahrenstechniker. Findet sie und freut sich über die neue Kollegin.

Das Informationsproblem nimmt aber zu, auch weiss man nicht mehr so genau, wer sich mit wem wann abstimmen sollte. Man arbeitet intensiv weiter und merkt dann manchmal etwas spät, dass alle meinten der, die andere hätte etwas gemacht.

So entschliesst man sich – schweren Herzens und nach viel Diskussion – zu klaren Aufgabenzuordnungen, d.h., man definiert Rollen innerhalb des Teams. Es zeigt sich nun auch, dass, wenn auch nicht bewusst, bereits zwei Hierarchiestufen entstanden sind. Der Assistent und die Verfahrenstechnikerin sind wohl gleicht geschätzt, aber eben halt doch nicht gleich. Die einen sind Eigner, die andern Angestellte. Klar, man hat ein sehr kooperatives Gehaltsmodell entwickelt (am Wertwachstum des Unternehmens orientiert), aber trotzdem, es bleibt ein Unterschied.

Und noch etwas musste besser organisiert werden. Man konnte nicht mehr alle Themen am Abend und zwischen Tür und Angel besprechen. Also hat man Regelsitzungen mit bestimmten Themen und Entscheidungsvorbereitungen vereinbart.

Was hat sich da im Umgang mit Komplexität abgespielt.

Fünf Leute müssen sich über vielleicht 10 Themen abstimmen und Entscheidungen treffen. Man sieht sich oft, die Umsetzung „flutscht“, man merkt bei der Arbeitsintensität gar nicht, dass man sich schon in einer hohen Komplexität bewegt.

Nehmen wir an, jeder spricht zu jedem Thema in einer Sitzung zwei Minuten, dann dauert das doch schon 5x2x10 Min. pro Treff. Dann hat jemand einen Arbeitsschritt ausgeführt und muss die andern wieder informieren. Zwischenentscheidungen werden notwendig – man ist ständig am Diskutieren und sich abstimmen – so müsste man meinen. Dem ist aber nicht so.

  1. Konsens ist meistens schon da.
  2. Jeder hat zu jedem Vertrauen, dass er eine Sache richtig erledigt. Man informiert sich kurz beim Kaffee oder holt schnell noch eine Meinung zwischen Tür und Angel ein.
  3. Man arbeitet auf Zuruf.
  4. Alle sind fast immer präsent oder kommen abends spät noch dazu.

Die Komplexität wird durch Vertrauen, gemeinsame Grundhaltung, klare Zielvorstellung und Arbeitsintensität reduziert. Man spürt sie gar nicht. Das Team arbeitet selbst-organisiert.

Die Assistenzfunktion wird als Entlastung wahrgenommen. Man kann nun gewisse Funktionen delegieren. Vielleicht werden manchmal Erwartungen etwas enttäuscht, aber das belastet nicht grundsätzlich. Der Assistent ist integriert.

Von aussen betrachtet, hat man aber die erste Rolle definiert. Der Assistent reduziert Komplexität, indem er Funktionen kanalisiert und auch Struktur ins Team hineinbringt. Diese Reduktion ermöglicht dem Team, mehr Komplexität zu bearbeiten (man hält sich den Rücken frei). Eine Bündelung reduziert also einerseits Komplexität und ermöglicht andererseits mehr Komplexität.

Dieser Überschuss an Komplexitätskapazität des Teams führt zu einer Ausweitung der Aufgaben und/oder der Kontakte. Man hat ja wieder etwas Zeit und nutzt sie produktiv. So kommt der Punkt, wo es fachlich zu viel wird und man sich auch da entlasten will. Es kann auch sein, dass man auf neue Inhalte stösst, für die niemand wirklich kompetent ist. So kommt die Verfahrenstechnikerin dazu.

Damit macht die Komplexität einen Sprung. Einmal ist ein Element mehr, aber dieses Element hat nun eine fachliche Dimension – nicht nur eine strukturierende -. d.h., es generiert auch inhaltliche Komplexität und exponentiell mehr Abstimmungsbedarf. Exponentiell darum, weil sich dieses neue Teammitglied mit fünf andern abstimmen muss.

Neu ist auch, dass man nicht mehr nur mit Vertrauen arbeiten kann. Es braucht jetzt vertragliche Abmachungen, klare Ziele und Ergebnisinformationen.

Jetzt wird es schlicht zu viel der Komplexität, und man braucht neue Reduktionsmechanismen.

Institutionalisierte Sitzungen und Entscheidungsprozesse sind die Antwort darauf, denn Prozesse und klare Verfahrensdefinitionen absorbieren Komplexität.

Andererseits generieren diese Massnahmen auch wieder Komplexität: Man muss über die Sitzungen informieren, da nie alle dabei sein können. Sitzungen müssen vorbereitet werden, man muss sich im Voraus abstimmen. In der Sitzung selbst braucht es mehr Diskussion, da der Konsens nicht mehr so einfach gegeben ist. Vielleicht ringt man sich zu einem Mehrheitsentscheid durch. Fazit: Man wird eine „normale“ Firma.

Erkenntnis

Reduktion von Komplexität führt zu Differenzierungen, die dann iterativ wieder zu höherer Komplexität führen.

Wenn man den Fall der „normalen“ Firma, die als Entrepreneurfirma begonnen hat, weiterspinnt dann wird sie an einen Punkt kommen, wo es zu viel Aufwand macht, dass sich die drei Verfahrenstechniker und Entwickler ständig mit dem Verkauf – der jetzt auch gewachsen ist – abstimmen und schon gar nicht mit den Finanzleuten.

Das sind zu viele Element,um sich direkt zu vernetzen, und es besteht die Gefahr, dass man dann Wesentliches vergisst oder nicht mitbekommt.

Zudem wächst der Unsicherheitsfaktor. Die einzelnen Mitarbeitenden sind nicht mehr nur wegen der Idee zusammen, sondern machen auch einfach einen guten Job.

Da werden die bewährten Komplexitätsreduktionen eingesetzt: Man bildet Abteilungen, schafft neue Rollen (Abteilungsleiter, die sich koordinieren statt alle zusammen) und führt Regelungen (MbO, Organisationshandbuch, ...) ein.

Das alles leuchtet ja ein, aber was erreicht man damit? Von jedem Teilsystem aus gesehen hat man die Komplexität im Griff. Die Entwicklung funktioniert, das Marketing auch, aber die Silos stimmen sich zu wenig ab, informieren sich nur noch über die Vorgesetzten, die ihrerseits eine abstrakte Informationsbasis haben.

Zudem geht der Iterationsprozess weiter. Die Abteilungen wachsen, es braucht Stäbe zur Komplexitätsreduktion, .... das alles ist dann bekannt.

Manchmal verläuft die Anfangsphase auch etwas anders. Heinz Nixdorf startete in der Garage, und er hatte die Firma im Kopf. Seine Mitstreiter waren nur seine Kapazitätserweiterung, aber mussten funktionieren wie er selbst, sonst musste man sich trennen. Dies prägte den Vorstand auch noch mit 15000 Mitarbeitenden. Der VV sass in der Mitte des Grossraumbüros und rief einfach einen Namen durch den Raum – worauf der Mitarbeiter schnellstens erschien.

Dies ist eine konsequent hierarchische Reduktion der Komplexität. Wenn der Chef genügend Zeit hätte, würde er alles alleine machen. Die Mitarbeitenden sind standardisierte Hilfsmittel, die bitte den verlangten Output zu bringen haben, wenn nicht, wird man sie möglichst schnell ersetzen.

Ob kooperativ oder autoritär, wenn die Firma wächst und immer mehr Leute dazu kommen, dann entstehen traditionell immer neue Hierarchiestufen, sowie kleine und kleinste Subsysteme. Verfahren werden im Controlling und den Prozesshandbüchern festgehalten und Organigramme schreiben die Beziehungen fest.

Dieser Kosmos von Subsystemen generiert eine Komplexitätsdruck, der nicht mehr zu bremsen ist. Die innere Differenzierung nimmt dadurch immer mehr zu und verhindert die Anpassung an Veränderungen im Umfeld und/oder die Aufnahme ganz neuer Ideen und Technologien, da diese zu viel gegossene Komplexität wieder freisetzen würden.

Dann ist der nächste Spin-off fällig.

Ein Naturgesetz?

Ist dieser Zwang zur Differenzierung ein Naturgesetz? Es scheint zumindest eine soziologische Tatsache zu sein. Die ganze Gesellschaft hat sich von Stammeskulturen zu einer hochdifferenzierten Gesellschaft entwickelt, die in ihrer Komplexität nicht mehr zu überblicken ist. Wir haben mit Grundgesetzen, juristischen und vielen demokratischen Abstimmungsprozessen, sowie Verbänden und Parteien, usw. einerseits die Komplexität reduziert, andererseits fast ins Unendliche gesteigert. Dies wäre zu reflektieren, wenn man über „Politikverdrossenheit“ spricht. Wie Mitarbeitende, die das Ganze überhaupt nicht mehr erkennen können, ziehen sich auch Bürger in die inneren Systeme zurück (Sportclub, Clique, Familie).

Unternehmerische Aufgabe

Unternehmer müssen lernen, wie man komplexe Systeme so gestalten kann, dass sie eine Binnendifferenzierung aufweisen, die Dank Komplexitätsreduktion Führung ermöglicht, gleichzeitig aber Offenheit bewahren, damit sie mit dem Umfeld kooperieren können. Grosse Systeme tendieren dazu, dass sie alle Umfeldveränderungen zu assimilieren versuchen (Integration in die eigene Systemwelt), lernen und Lebensfähigkeit heisst aber auch, dass ein komplexes System an sein Umfeld akkommodieren kann (Bedingungen des Umfeldes aufnehmen).

Das gekonnte Assimilieren und Akkommodieren ist die Managementfähigkeit der Zukunft – die längst begonnen hat.

Im nächsten Blog werde ich die Vorarbeiten zu einer erfolgreichen Gestaltung von Komplexität darstellen: Ausmisten!

Vielen Dank für Kommentare.

Willi Fehlmann